HT 2023: Unsichere Urgeschichte – fragiles Wissen und die Hervorbringung der Tiefenzeit

HT 2023: Unsichere Urgeschichte – fragiles Wissen und die Hervorbringung der Tiefenzeit

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Naomi Niemann, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Mannheim

Je „tiefer“ die chronologische Reichweite, desto kürzer die Halbwertszeit wissenschaftlicher Thesen. Besonders in der wissenschaftlichen Urgeschichtsforschung, so die Organisator:innen in ihrer Einführung, lassen neue Funde, neue Erkenntnisse, aber auch neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen vermeintliche Gewissheiten schnell obsolet erscheinen. Und doch werden gerade in der Kommunikation mit einer breiteren Öffentlichkeit immer wieder scheinbar eindeutige und kohärente Narrative vermittelt. Die Sektion „Unsichere Urgeschichte – fragiles Wissen und die Hervorbringung der Tiefenzeit“ widmete sich deshalb der Frage, wie von den 1830er-Jahren bis in die Gegenwart die Unsicherheit, Fragilität und Ambivalenz von Wissen über die Urgeschichte gesellschaftlich, politisch und juristisch rekonstruiert wurden und werden, um den Eindruck von Eindeutigkeit und Stabilität zu erzeugen. Denn die Urgeschichte verspricht einerseits Antworten auf grundlegende Fragen nach den Ursprüngen und dem Werden von Leben, nach der Natur des Menschen oder nach der Grenzziehung zwischen „Primitivität“ und „Zivilisation“. Andererseits bietet sie aufgrund ihrer fragmentarischen Quellenlage aber auch ein besonders eindrückliches Beispiel, um zu zeigen, wie sich zeitgenössische Methoden und Strategien im Einklang mit dem Imperialismus-, Rassismus-, und Zivilisierungsdenken entwickelten. Die Sektion analysierte demnach die Rekonstruktion und Interpretation der epistemischen Fragilität der Urgeschichte anhand von verschiedenen Facetten der Urgeschichte und zeigte nachhaltig, wie die normativen Deutungen von fragilen Fakten oftmals als Projektionsfläche für aktuelle Gesellschaftsentwürfe standen und stehen.

Die enge Verschränkung von Wissen und Fiktion, Kunst und Forschung sowie medialer Vermittlung im Zuge der Erforschung und Popularisierung der Saurier vom frühen 19. Jahrhundert bis heute untersuchte JOHANNES GROßMANN (Tübingen) in seinem Beitrag. Dabei zeigte er vor allem an den Methoden und Kontexten der Wissensproduktion und -konstruktion, dass die fragmentarische Überlieferung den Raum öffnete für die Verbindung und gegenseitige Beeinflussung von Forschung, Fiktion und Ideologie. So wurden Saurier über den Lauf der Zeit nicht nur als biblische Ungeheuer gedeutet, sondern auch genutzt, um imperialistische Vorstellungen von Macht, Gewalt und „Kampf ums Dasein“ künstlerisch festzuhalten. Dabei fanden die Erforschung und Deutung von Sauriern in einem zeitlichen und räumlichen globalen Kontext statt. Ausgehend von der Theorie des Kontinentaldrifts suchten Paläontologen seit Ende des 19. Jahrhunderts auch außerhalb Nordamerikas und Europas nach Fossilien. Das schloss eine länderübergreifende Kooperation mit nichtwissenschaftlichen Akteuren wie Sammlern, Händlern und Politikern ebenso mit ein wie Expeditionen in Kolonialgebiete, etwa die Tendaguru-Expedition in Deutsch-Ostafrika zwischen 1909 und 1913. Spätestens mit der „Dinosaur-Renaissance“ seit den 1970er-Jahren spiegelten sich katastrophische Theorien zum Aussterben der Saurier im Kontext der Anti-Atom-Proteste und der Umweltbewegung wider. Akademische Wissensproduktion fand so stets im Wechselspiel zwischen Popularisierung und Fiktion statt, welches durch die fragmentarische Überlieferung und andauernden neuen technologischen Zugänge der Fossilien begünstigt wurde. Viele Paläontologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts betätigten sich zudem als Ethnografen und wirkten bei ihren Ausgrabungen auch an der rassistisch motivierten Suche nach dem „ersten Menschen“ mit.

PATRICK STOFFEL (Lüneburg) untersuchte dabei das „geologische Bild“ vom Urmenschen anhand von Landschaftsbildern im Zeitraum von 1845 bis 1868 und veranschaulichte so, wie durch neue geologische Erkenntnisse die zeitgenössische „Jetztwelt“ mit der „Urwelt“ verschmolz. Noch in den 1850er-Jahren hielt der Landschaftsmaler Joseph Kuwasseg zusammen mit dem Naturforscher Franz Unger die Geschichte der Erde in Landschaftsbildern fest, die sich graduell auf die Ankunft des ersten Menschen und damit das Ende der Urwelt hin fortentwickelten. Angefangen bei ersten organischen Lebensformen in der „Übergangsperiode“ schloss die Bilder-Serie mit der Ankunft des „ersten“ Menschen, welcher als vollendet, europäisch und modern dargestellt wurde. Grundlage für diese Vorstellungen waren keine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern die Bibel. Erst die Novara Südsee-Expeditionen zwischen 1857 und 1859 veränderten die Vorstellung von der Ankunft der Menschen. Durch die Verknüpfung von als „primitiv“ wahrgenommenem zeitgenössischem Leben in der Südsee und prähistorischem Leben in Europa sowie der künstlerischen Darstellung von Geschlechterrollen des 19. Jahrhunderts verbanden sich in den Landschaftsbildern Werte von bürgerlicher Gesellschaft mit Vorstellungen von prähistorischem menschlichem Leben. Doch gerade die Entdeckung fossiler Überreste von Flora und Fauna aus der Braunkohlezeit veranlasste Franz Unger in den 1860er-Jahren zu der Schlussfolgerung, dass auch die Entstehung des Menschen den Naturgesetzten folgen musste. Das „Auftreten des Affen“ wurde folglich in die Landschaftsbilder integriert, die nun direkte Forschungserkenntnisse festhielten. Dennoch ist die Ähnlichkeit zu „Jetztwelt“-Darstellungen nach wie vor vorhanden. Noch 1865 hielt Unger fest, dass immer noch nicht bekannt sei, wo der Mensch „zuerst das Licht der Welt erblickte“.

Das methodische Erschließen der Urgeschichte anhand der „ethnologischen Analogie“ besprach MIRA SHAH (Bern) näher. Für das schweizerische Selbstverständnis sowie die Verortung in der Prähistorie nahm die romantisch imaginierte steinzeitliche „Pfahlbaukultur“ der Schweiz von der Mitte des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden Platz ein. Als ein „helvetischer Sonderfall“ konkurrierten die Quellenfunde mit den überregional gemeinsam belegten Helvetiern und Helvetierinnen in dem Versuch, die Wurzeln der Nation in einer „Urbevölkerung“ zu finden. Dabei beruhte die Wissensgenerierung auf der fragilen Methode der „ethnologischen Analogie“, bei der die materielle Kultur gegenwärtiger „fremder“, meist außereuropäischer Gesellschaften als Vergleichsgröße genutzt wurde. Die steinzeitlichen schweizerischen Pfahlbauten wurden so mit den zeitgenössisch als „primitiv“ wahrgenommenen Bevölkerungsgruppen der Maori Neuseelands, einer Papua-Gesellschaft an der Nordküste Neuguineas sowie den Indigenen Nordamerikas verglichen. Dabei wurde versucht, das „Fremde“ der Urgeschichte mit dem bereits bekannten „Fremden“ der Gegenwart zu interpretieren. Die daraus resultierende doppelte Fragilität des Wissens erzeugte eine Chronopolitik, in der die ungewisse epistemologische Grundlage der prähistorischen Pfahlbauten mit den konstruierten jetztzeitlichen Ähnlichkeiten ein Eigenleben entwickelte. Durch diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ wurde die Identität außereuropäischer Gesellschaften als prähistorisch oder „primitiv“, als „lebende Steinzeit“ gekennzeichnet. Die mangelnde Problematisierung der Methode der „ethnologischen Analogie“ lässt sich dabei zum einen auf die anthropologisch konstante kognitive Praxis des Vergleichens zurückführen, zum anderen auf das von Ambivalenz geprägte archäologische wissenschaftliche Arbeiten, welches BRIGITTE RÖDER (Basel) näher erläuterte.

MARTIN DEUERLEIN (Tübingen) nutzte die vor allem in Nordamerika politisch aufgeladene Debatte um den „Prehistoric Overkill“, um darzustellen, wie bestimmte wissenschaftliche und historische Thesen mit gesellschaftlichen Vorannahmen und Projektionen verbunden sind. Dies wird insbesondere durch fragile Fakten begünstigt, wie sie bei der „Quartären Aussterbungswelle“ am Übergang vom Pleistozän zum Holozän vor circa 11 000 Jahren vorhanden sind. Während heute Erklärungen wie Krankheiten, ein Kometeneinschlag oder die graduelle Veränderung des Klimas als Ursachen für das Aussterben von ungefähr 200 Gattungen angeführt werden, setzte sich schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die These der menschengemachten Ausrottung durch, die auf die Annahme gründete, bei prähistorischen „Primitive“ wie bei zeitgenössischen Indigenen ließe sich ein „unsportliches“ und verschwenderisches Jagdverhalten beobachten. Doch insbesondere der von Paul S. Martin in den 1960er-Jahren geprägte Begriff „Prehistoric Overkill“ führte zu einer Eskalation der Debatte. Seine These verband die menschliche Besiedlung des Kontinents kausal mit dem Aussterben der Großsäuger und suggerierte eine schnelle und brutale Vernichtung. Insbesondere Martins Formulierungen wie „Blitzkrieg“ und „plötzliche Invasion“ führten zu einer Reaktion des neu formierten American Indian Movement. Weltweit forderten Indigene in den 1960er-Jahren nicht nur ein Ende politischer, ökonomischer und rechtlicher Diskriminierung, sondern auch ein Mitsprachrecht an der Produktion von Wissen über sich selbst und ihre Vorfahren. Denn an der Debatte um das urzeitliche Massenaussterben der Großsäuger Nordamerikas wurden auch Auffassungen und Annahmen über indigene Völker, das Mensch-Natur-Verhältnis und die Einwanderung über die Beringstraße verhandelt. Letztendlich ging es in der Debatte auch um die Verantwortung für die damalige und heutige Natur sowie deren Ausnutzung. Die Historisierung solcher Debatten um fragmentarisch belegte historische Kontexte zeigt dabei nicht nur den Einfluss von politischer und epistemischer Macht, sondern auch die Projektion von gegenwärtigen Annahmen auf (prä)historische Fragen.

Röder zeigte abschließend, wie die bürgerlichen Vorstellungen von Gesellschaft und Geschlechterrollen des 19. Jahrhunderts nicht nur Erkenntnislücken in der archäologischen Erforschung von prähistorischen Gesellschaften vermeintlich schlossen, sondern auch eine bürgerliche Weltanschauung als „universal menschlich“, „ursprünglich“ und „natürlich“ festigten. Dabei diente die bürgerliche Gesellschaft als Analogiemodell und Resonanzraum zugleich. Während archäologische Funde das biblische Welt- und Geschichtsbild im 19. Jahrhundert zunehmend in Frage stellten, ersetzte die Projektion von Bekanntem auf die Urgeschichte den Verhandlungsraum für Weltanschauungen. Dabei ließen die tatsächlichen archäologischen Quellen oftmals keinen Rückschluss auf Handlungen oder soziale Interaktion zu. Zumeist handelte es sich dabei um Dinge des Alltags, Relikte von Baustrukturen oder sterbliche Überreste. Die primären Funktionen ließen sich dabei noch gut erschließen, Handlungszusammenhänge jedoch weit weniger. Die Fragilität von Fakten kreierte dabei ein Spannungsfeld von vermeintlicher Eindeutigkeit und tatsächlicher Vieldeutigkeit. Losgelöst von zeitgenössischen Vorstellungen besaß ein prähistorisches Objekt meist vieldeutige Funktionen, die sich so schwer rekonstruieren lassen. Nichtsdestotrotz beruhte die kulturgeschichtliche Interpretation oftmals auf einer verengten Einbettung und erschuf somit wieder eine zuweilen fiktive Eindeutigkeit. Diese Rekonstruktionen werden schlussendlich noch heute in Schulbüchern, Museen und Fachpublikationen visualisiert und damit wiederholt und verstärkt. Dadurch werden fremde, unverständliche oder irritierende Vorstellungen von Lebensformen ausgeklammert. Stattdessen würde eine selbstreflexive prähistorische Forschung davon profitieren, offen und neugierig auf potentielle Fremdheit zu reagieren.

Wie die Sektion aus unterschiedlichen Blickwinkeln und anhand verschiedener Aspekte zeigte, entstehen Fragen an die Vergangenheit immer in der Gegenwart. Der Einfluss von zeitgenössischen Vorstellungen von Werten, Lebensweisen und politischen Ordnungen steht dadurch in einer Wechselwirkung mit der Deutung von (prä-)historischen Quellen. Der Großteil der 2,8 Millionen Jahre der Geschichte der Menschheit ist indes schriftlich nicht belegt. Diese Fragilität wurde durch zeitgenössisch dominierende Deutungen verwischt. Eine wissenschaftliche Berücksichtigung der fragilen Quellenlage bedarf dabei jedoch selbstreflexiver Auseinandersetzungen mit dem wissenschaftlichen Fragen an die Urgeschichte sowie einer transparenten Einbeziehung des eigenen Hintergrunds. Es müsse daher auch möglich sein, Überlieferungslücken anzunehmen und auszuhalten, so Röder in der anschließenden Diskussion. Für verlässliche Erzählungen über die prähistorische Vergangenheit könnte dabei auch eine enge Vernetzung mit anderen Disziplinen, insbesondere den Naturwissenschaften, helfen – deren Thesen aber wiederum historisch-kritisch verortet werden müssten. Durch den starken Erkenntniswandel offenbart der Blick auf die Urgeschichte viele Dynamiken der Wissensgenerierung. Dadurch lässt sich nicht nur rückblickend der Einfluss von Weltvorstellungen des 19. Jahrhunderts wie Rassismus und Kolonialismus auf die Urgeschichtsforschung aufdecken, sondern auch grundlegend darüber nachdenken, wie mit der Unsicherheit, Fragilität und Ambivalenz von Wissen umgegangen werden kann.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Martin Deuerlein (Tübingen) / Johannes Großmann (Tübingen) / Mira Shah (Bern)

Johannes Großmann (Tübingen): Von Monstern und Menschen. Die (Re-)Konstruktion der Saurier im 19. und 20. Jahrhundert

Patrick Stoffel (Lüneburg): Ein ‚geologisches Bild‘ vom Urmenschen (1845-1868)

Mira Shah (Bern): Ambivalente Analogien. Imagination der Pfahlbau-Steinzeit zwischen der Schweiz und Neuguinea

Martin Deuerlein (Tübingen): Legitimation aus der Tiefenzeit: Nordamerikas Indigene und der Streit um den prähistorischen Overkill

Brigitte Röder (Basel): Harte Steine – harte Fakten? Urgeschichtliche Quellen als Projektionsfläche

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts